ARCHEOASTRONOMIA LIGUSTICA

 

 

Pubblicato in: Arunda Rivista Culturale n. 56, ed. Schlanders, Bolzano, 2001, pp. 125-131

 

ARCHÄOASTRONOMISCHE ERFORSCHUNG DER FRÜHCHRISTLICHEN KIRCHE ST. PROKULUS IN NATURNS


 Mario Codebò  

 

Erhebung der Daten.

Einem aufmerksamen Beobachter wird beim Besuch in St. Prokulus bei Naturns sofort die besondere Winkelstellung des Altares auffallen, in der dieser zum Kirchenschiff steht. Der Archäoastronom fragt sich, ob diese auffällige Anordnung eine besondere Fluchtlinie darstellt, die diesem Baustil eigen ist.
Ich habe St. Prokulus während meiner Ferien im Jahre 2000 besucht und Messungen durchgeführt. Herr Heinrich Koch hat mir wertvolle Hinweise geliefert, die in diese Untersuchung eingeflossen sind. Während des Urlaubes war ich nicht ausreichend mit wissenschaftlichen Instrumenten ausgestattet, die für meine Nachforschungen notwendig gewesen wären. Ich musste mich mit einem prismischen Kompass Recta und einem Inklinationsmesser Suunto behelfen. Beim Kompass können allerdings magnetische Unregelmäßigkeiten auftreten. Um mich auf genaue Messungen stützen zu können, müsste ich exakte astronomische Methoden anwenden und den Theodoliten und die Kreuzscheibe zur Verfügung haben (Romano 1991, S. 23-29 und Codebò 1997, S. 39-109)
Die Bestimmung der geografischen Koordinaten war nicht schwer, da St. Prokulus auf der Topografischen Karte I.G.M. 1:100.000, Blatt Nr. 10, lat. 46°39‘55‘‘ Nord und long. 11°00‘35‘‘ Ost (Daten von 1940) oder 11°00‘37‘‘ Ost (Daten von 1950) mit 554 Metern über dem Meeresspiegel eingetragen ist.

Um die Fehlerquote zu reduzieren, habe ich die magnetische Ortsabweichung bestimmt (Maddalena S. 87f, Codebò 1996 S. 323-335) und die Abweichungswinkel von drei Stellen aus gemessen, die vom Turm der Kirche einsehbar sind: vom Kirchturm der Pfarrkirche St. Zeno in Naturns und von den Schlössern Hochnaturns und Dornsberg. Die Differenz zwischen den geografischen Abweichungswinkeln (auf der Landkarte gemessen) und den magnetischen Abweichungswinkeln (vom Kirchturm aus gemessen) betrug 0°; dies in Übereinstimmung mit den Carte Magnetiche d´Italia I.G.M. von 1973 und 1985 und unter Berücksichtigung der westlichen Abdrift der Anagonallinie (Guarneri Botti).

Folgende Abweichungswinkel wurden mit magnetischen Geräten gemessen:

a) Hauptachse der Kirche (Eingang – Apsis)

b) kleine Achse der Kirche

c) die vier Achsen des Altartisches

d) die Achsen der fenestrella confessionis an der Nordseite.

Für jede Achse habe ich mehrere Abmessungen gemacht, das Mittel gezogen und die Standardabweichungen eingerechnet. Für jeden Abweichungswinkel habe ich schließlich mit dem Inklinationsmesser die Höhe des sichtbaren Horizonts festgelegt. Dabei habe ich folgende Ergebnisse erzielt:

1) Die kleine Achse der Kirche, mit magnetischen Abweichungswinkel (Amg) 168°, ist gegen den Sonnenaufgang der letzten Dezembertage gerichtet, wenn die Sonne die aktuelle Abweichung von –23°25‘ erreicht. Von der Wintersonnenwende (21. Dezember) bis zum Weihnachtstag (25. Dezember) geht die Sonne zwischen dem Nörderberg und der Hochwart gegen neun Uhr und 24 Minuten mit einer gemessenen Höhe von 19,5° auf. Die Sonne strahlte durch den einstigen Haupteingang und erhellte das Kircheninnere. Ein Fenster an dieser Seite, das abgekommen ist, verstärkte dieses Lichtphänomen. Heute wird dem Altartisch über ein Apsidenfenster Sonnenlicht zugeführt, wie Heinrich Koch bestätigt.

Im 7. Jahrhundert n. Chr. betrug die Abweichung nach Berechnung mit der Laskar-Formel (Meeus, S. 147f) wegen der planetarischen Präzession –23°39‘. Es ist allgemein bekannt, dass das Weihnachtsfest auf den 25. Dezember, dem Datum des heidnischen „sol invictus“ gelegt worden ist, um zu demonstrieren, dass Christus der „verum sol invictus“ ist, der über das Heidentum triumphiert.

2) Die Hauptachse von St. Prokulus, mit Amg 78° und der gemessenen Höhe (hm) 7°, zeigt bei einer Abweichung von 12°54‘ gegen den Sonnenaufgang vom 18. August. Das ist der Tag der illyrischen Märtyrer des 2. Jh., Florus, Laurus, Prokulus und Maximus (Bibliotheca Sanctorum). Im 7. Jh. betrug der Abweichungswinkel am 18. August 13°07‘.

3) Die Südost-Nordwest-Altarachse zeigt mit Amg 264° und hm 8° bei einer Abweichung von 1°20‘ gegen den Sonnenuntergang an den Tagen 23. und 24. März  sowie 18. September. Im 7. Jh. n. Chr. betrug der Abweichungswinkel an diesen Tagen wegen der Schrägschwankungen in der Sonnenbahn 1°33‘. Am 23. März feierte die Kirche nach dem alten veronesischen Kalender das Fest des Hl. Prokulus, Bischof von Verona. Im Martyrologium Romanum fällt der Prokulustag, so wie heute noch, auf den 9. Dezember (Bibliotheca Sanctorum). Also wurde der Altar von St. Prokulus im späteren Mittelalter im Sinne des veronesischen Kalenders nach dem Sonnenuntergang jenes Tages ausgerichtet, an dem der Kirchenpatron St. Prokulus verehrt wurde.

4) Die Nord-Ost-Achse des Altares weist bei Amg 84° und hm 9,5° und einer Abweichung von 10°48‘ auf den 17. April und den 24. August. Im 7. Jh. n. Chr. betrug die Abweichung in Hinblick auf den 18. April und den 24. August 11°01‘. Am erstgenannten Tag gedachte die Kirche einiger keltischen (gälischen) Heiligen und am 24. August wurde der Hl. Candidus (Innichen!) gefeiert (Bibliotheca Sanctorum).

5) Die weiteren axialen Ausrichtungen haben keine archäoastronomische Bedeutung.

I. Die westliche Hauptachse der Kirche: Amg 258°, hm 5°, aktuelle Abweichung –4°58‘. Im 7. Jh. n. Chr. betrug die Abweichung –5°11‘.

II. Kleine Nordachse der Kirche: Amg 348°, hm 28°.

III. Altarachse Süd-Ost: Amg 175°, hm 19°, aktuelle Abweichung –24°25‘, Abweichung im 7. Jh: -24°38‘.

IV. Altarachse Nord-West: Amg 355°, hm 29°, aktuelle Abweichung 71°27‘, Abweichung im 7. Jh: 71°14‘.

Die Werte von II und IV liegen im Jahresmittel außerhalb des Kreisbogens zwischen Aufgang und Untergang von Sonne und Mond.

6) Die Achse der fenestrella confessionis mit Amg 354° - 174° zeigt auf die Südost-Seite des Altares, wo der Priester stand, wenn er sich dem Volke zuwendete. Allerdings ist diese Messung mit e.q.m. ± 6,8° ungenau. Amg 354° liegt auch bei hm 18° außerhalb des Kreisbogens zwischen Aufgang und Untergang von Sonne und Mond.

 

 

Schlussfolgerungen.

Drei Achsenorientierungen lassen eigene Schlussfolgerungen zu, die mit den historisch-kultischen und archäologischen Daten von St. Prokulus zusammenpassen. Für die vierte Ausrichtung nach St. Candidus finden wir einen räumlichen und kulturellen Kontext mit Innichen.

Die Baugeschichte und die Orientierungsphasen könnten aus den gewonnen Daten und Erkenntnissen wie folgt rekonstruiert werden:

a) Im 7. Jh. wurde St. Prokulus so erbaut, dass der Eingang auf jenen Punkt schaute, an dem von der Wintersonnwend bis zum Weihnachtstag die Sonne aufging. Am Tage des Hl. Prokulus und an jenem der illyrischen Märtyrer trafen die ersten Sonnenstrahlen die Apsis der Prokuluskirche. Es ist denkbar, dass es wegen der Homonyme Prokulus zu einem Unterscheidungsfehler gekommen war. Dieser ist auch in Ligurien bei S. Eugenio feststellbar (Bonora, Calzolari, Codebò, De Santis S. 285-292).

b) Als der Fehler mit der Hinwendung zum „falschen“ Prokulus entdeckt wurde, konnte der Kirchenbau nicht mehr neu ausgerichtet werden. Deswegen wurde zumindest der Altar in seiner axialen Ausrichtung auf den veronesischen Prokulus hinorientiert. Die Ausrichtung des Altares gegen den Sonnenaufgang vom 23. März hätte aber eine nicht tragbare Abwendung des Priesters von den Gläubigen bedeutet, denn er hätte gegen den heutigen Kustostisch schauen müssen. So wurde der Altar gegen den Sonnenuntergang des 23. März gedreht, somit ist der Winkel des Altartisches sehr klein ausgefallen (nur 6° gegen 16° bei Sonnenaufgang). Der Priester ist nun ziemlich genau auf die Kirchenbesucher gerichtet. Mit dieser Ausrichtung gegen Sonnenuntergang konnte also ein tauglicher Kompromiss gefunden werden.
 

 

Weitere Messungen.

Im Sommer des Jahres 2000 habe ich auch an anderen Kirchen Messungen durchgeführt. Die drei romanischen Sakralbauten von Mals (St. Benedikt, St. Martin und der Johannesturm) sind in ihrer magnetischen Orientierung auf die äquinoktiale Achse 90° - 180° ausgerichtet. Da der Sonnenazimut in Mals an äquinoktialen Tagen bei Sonnenaufgang und Sonnenuntergang größer als 90° und kleiner als 270° ist, könnten wir annehmen, dass die Erbauer bei der Orientierung dieser Kirchen astronomische Messinstrumente einsetzten. Dazu könnte ein Indianischer Kreis gedient haben oder die Bewegung eines Polarsterns (Romano 1992, S. 37ff, 186-189). Auch die genauen Beobachtungen von Sonnenaufgängen und Sonnenuntergängen könnten von Nutzen gewesen sein.
Die Stadtpfarrkirche Unsere Liebe Frau im Moos in Sterzing (lat. 46°53‘25‘‘ Nord, long. 11°25‘56‘‘ Ost, 945 m ü.d.M.), mit einer Kompassachse 247°-67° und hm 9,5° gegen Ost, besaß diese Orientierung mit den Abweichungen 21°45‘35‘‘ im 15. Jh. und 21°47‘08‘‘ im 13. Jh. Beide Werte stehen mit dem Sonnenaufgang am 30. Mai und am 13. Juli in Verbindung.

St. Zeno auf Schloss Reifenstein bei Sterzing (lat. 46°52‘48‘‘ Nord, long. 11°26‘34‘‘ Ost, 977 m ü.d.M.) mit einer Kompassachse 256,5°-76,5° und hm 16° und 12,5° im 7. Jh. n. Chr. hatte in ihren Abweichungen 2°17‘12‘‘ und 17°50‘41‘‘. Der erste Wert passt zum Sonnenaufgang am 26. März und am 16. September, der zweite Wert zum Sonnenaufgang am 10. Mai und am 1. August.

Nach dem heutigen Stand der Erkenntnisse besitzen diese beiden Kirchen keine archäoastronomische Ausrichtung. Genauere Festlegungen sind aber erst nach dem Studium der Baugeschichte und der ursprünglichen Patrozinien möglich.

 

 

Ergebnisse.

Während eines Besuches im Museum von Latsch sagte mir eine Dame, dass in der Bichlkirche von Latsch ein Menhir gefunden worden sei. Der dortige Kirchenhügel werde zur Wintersonnwend bis 15.00 Uhr von der Sonne beleuchtet, während das Dorf Latsch schon im Schatten liegt.
Zwei weitere Kirchen im Vinschgau (St. Johann in Münster/Müstair und St. Georg in Kortsch) haben archäoastronomische  Orientierungen (Coray-Lauer S. 73f, Bodini S. 75f). Alle diese Hinweise lassen darauf schließen, dass im Vinschgau die Ausrichtung von sakralen Bauten auf astronomische Phänomene bereits vom frühen Mittelalter an praktiziert wurde. Diese Erkenntnisse und bereits publizierte Befunde (Innerebner 1937, 1959) bestärken mich in der Annahme, dass Südtirol eine wichtige Zone für weitere archäoastronomische Forschungen wäre. Nur mit weiteren und systematischen Erkundungen könnten wir der Sache auf den Grund gehen.
 

 

Abschließender Dank.

Ich danke allen, die bereits im Bereich der archäoastronomischen Forschung gearbeitet haben. Weiters gebührt den Herrn Heinrich Koch und Gianni Bodini sowie der Zeitschrift Arunda mein Dank.

 

 

Bibliographie.

·        Bibliotheca Sanctorum. Città Nuova editrice, Roma.

·        Bodini Gianni (1999): ... und das Lichtlein von St. Georg. In: Reitia. Archäologie Forschung Projekte Spurensuche. (= Arunda 51), S. 75-76.

·        Bonora V., Calzolari E., Codebò M., De Santis H. (1998): Gli orientamenti delle chiese del Caprione (SP) e dell´isola di Bergeggi (SV). In: Atti del XVIII Congresso Nazionale di Storia della Fisica e dell´Astronomia.

·        Codebò Mario (1997): Problemi generali dell´indagine archeoastronomica. In: Atti del I seminario A.L.S.S.A. di archeoastronomia, O.A.G.-U.P.S., Genova.

·        Codebò Mario (1996): Uso della bussola in archeoastronomia. In: Atti del XVI Congresso Nazionale di Storia della Fisica e dell´Astronomia.

·        Coray-Lauer  Gion Gieri (1999): Das Licht von St. Johann. In: Reitia. Archäologie Forschung Projekte Spurensuche. (=Arunda 51), S. 73-74.

·        Guarneri Botti Luigi (1980): Elementi di magnetismo generale e geomagnetismo. Istituto Idrografico della Marina, Genova.

·        Maddalena Enrico (1988): Orienteering. Hoepli, Milano.

·        Meeus Jean (1998): Astronomical algorithms. William-Bell Inc. Richmond, Virginia, USA.

·        Nothdurfter Hans (1999): S. Procolo di Naturno. Tappeiner editore, Lana (BZ).

·        Romano Giuliano (1991): Orientamenti magnetici ed astronomici nelle mappe archeologiche. In: Atti del Colloquio Internazionale Archeologia ed Astronomia. Rivista di Archeologia, supplemento n. 9, Giorgio Bretschneider editore Roma.

·        Romano Giuliano (1992): Archeoastronomia italiana. CLEUP, Padova.

 

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